Familie Kamm; Meier und Jettchen

Herkunft der Familie

Die Familie Meier Kamm stammt aus Hettenhausen in der Rhön und zog mit ihren sechs Kindern 1896 nach Fulda

Meier Kamm wurde am 24.8.1851 in Hettenhausen/Gersfeld geboren und seine Frau Jettchen Kamm, geb. Wertheim am 20.4.1851 in Wehrda.

Fanny (Rachel) Bensinger, geb. Kamm – Lebensstationen

Interview von Elena Varntoumian mit Ethan Bensinger (Sohn) im Mai 2017

Kindheit

Rachel Bensinger wurde am 16. Juli 1912 in Fulda mit dem Namen Fanny Kamm geboren. Sie nahm den hebräischen Namen Rachel bei ihrer Einreise nach Israel an, und Fanny wurde zum zweiten Vornamen.

Den Namen Fanny bekam sie von einer sogenannten „Tante“, Fanny von Manstein. Rachels Mutter, Tekla Sichel, und die von Mansteins waren ein Leben lang eng befreundet. Oft wurden sie in das große Anwesen der von Mansteins in Würzburg eingeladen. Als Jugendliche pflegte Rachel regen Briefkontakt zu Fanny von Manstein. Fanny und ihr Mann Ernst von Manstein waren zum Judentum konvertiert und waren beide in ihrem neuen Glauben sehr belesen.

Rachel ist in der Altstadt von Fulda aufgewachsen. Sie wohnte mit ihren Eltern in der Kanalstraße 27. Sie entstammte zwei großen jüdischen Familien in Fulda – ihre Mutter, Tekla Sichel, wurde als eines von zwölf Kindern am 17. Mai 1886 in Fulda, und ihr Vater, Willy Kamm, als eines von zehn Kindern am 3. Dezember 1884 in Hettenhausen geboren.Ihre Großeltern mütterlicherseits (Sichel) besaßen in der Karlstraße ein Textil- und Kleidungsgeschäft und wohnten über dem Ladengeschäft.

Rachel erinnerte sich gerne an die Passamahle, den Seder, bei ihrem Großvater Jacob Sichel. Auch daran, wie sie ihre Großeltern 1934 zu dem Schiff nach Bremen begleitete, mit dem sie in die USA fuhren, um ihre in den 1920ern aus Fulda ausgewanderten Kinder zu besuchen. Interessanterweise kamen ihre Großeltern wieder nach Deutschland mit der Begründung zurück, die Amerikaner würden zu viel arbeiten und ihr Leben gar nicht genießen. Sie starben beide vor dem Krieg in Fulda und sind auf dem jüdischen Friedhof begraben.

Rachel war stolz darauf, dass das Unternehmen ihres Vaters, er verkaufte landwirtschaftliche Geräte, ihnen eines der ersten Kraftfahrzeuge in Fulda bescherte, obgleich sie nicht mitfahren durfte.

Während Rachel regelmäßig in die Synagoge ging und jüdische Feiertage beging, war Religion für ihren Vater Willy unwichtig. Rachel erzählte wie ihr Vater nie einen Fuß in eine Synagoge in Fulda gesetzt hatte, dafür lieber Skat mit seinen christlichen Freunden im Café Thiele spielte.

Interessanterweise war Willys Bruder Isaak orthodoxer Jude, der regelmäßig in die Synagoge ging und sogar eine koschere Metzgerei in Fulda besaß.

Über ihren Bruder Lothar berichtete Rachel, dass er kein Interesse an der Schule zeigte und lieber mit seinem Fahrrad durch Fulda fuhr oder Zeit mit seiner Freundin verbrachte. Neben ihrem Bruder hatte sie noch ein wunderbares Verhältnis zu zwei ihrer Cousins: Dr. Bubi Kamm, der, wie sein Vater Isaak, orthodoxer Jude war, und Trudi Kamm, die Rachel oft in Hannover besuchte. Das Verhältnis der drei Cousins blieb auch nach ihrer Ausreise nach Israel eng.

Ein großer Papagei war das Haustier der Kamms.

Als sie klein war, war Rachel ein hübsches Mädchen mit blondem Haar, und sie wurde oft gebeten, an Wallfahrtsprozessionen teilzunehmen. Da sie als Mädchen eine christliche Schule in Fulda besuchte haben die Nonnen womöglich nicht zwischen jüdischen und christlichen Kindern unterschieden, oder sie wussten vielleicht auch nicht, dass sie Jüdin war.

Mit 18 war Rachel Mitglied beim „Israelitischen Frauenverein“ und nahm im Januar 1930 an dessen Wohltätigkeitsfest teil. Sie präsentierte zusammen mit zwei ihrer besten Freundinnen, Trude Birk und Lotte Nussbaum, Szenen aus der Bibelgeschichte „Jakobs Traum“.

Rachel war eine stolze Verfechterin des Konzepts des Zionismus – der Gründung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina. Sie war aktives Mitglied in der Blau-Weiß Jugendgruppe in Fulda, die sich für eine Übersiedlung nach Palästina einsetzte. Sie dachte gerne an Begegnungen mit ihren Freunden, an Diskussionen über politische Ereignisse und den Austausch über die Lehren von Theodor Herzl (Vater des Zionismus), der das Buch „Altneuland“ schrieb.

Mit der Zeit begann Rachel sich als junge jüdische Person in Fulda unwohl zu fühlen.

Sie erinnerte sich daran, wie die Nachbarn ihrer Eltern sagten, „Wir sprechen nicht mit Juden“, und sie hörte oft den Ausdruck: „Juden rein und Juden raus.“

Mit der Zeit wurde ihr klar, dass sie keine Zukunft in Deutschland hatte und dass sie sobald sie konnte, nach Palästina ziehen würde. Selbst nach der Machtergreifung Hitlers sagte ihr Vater Willy, dass die Idee, aus Deutschland wegzuziehen, „dummes Geschwätz“ sei. Hitler sei ein politisches Phänomen, dessen Bewegung sich innerhalb von sechs Monaten in Wohlgefallen auflösen würde. Davon überzeugen konnte er sie nicht.

Rachel wollte als Erwachsene den Beruf einer Chiropodistin ergreifen und begann 1933 mit dem Studium am Lehrinstitut für Fußpflege in Berlin. Bei Dr. Scholl in Stuttgart machte sie ein Praktikum und übernahm dort und in Bremen die Leitung eines seiner Geschäfte.

Erwachsenenalter

Rachel erfreute sich ihrer Berufswahl, denn ihre Arbeit bei Dr. Scholl in Deutschland ebnete ihr den Weg ihren Traum zu verwirklichen und nach Palästina überzusiedeln und für die Errichtung eines Nationalstaates für das jüdische Volk zu kämpfen. Während ihrer Zeit bei Dr. Scholl in Bremen erfuhr sie, dass Dr. Rosenthal die Zweigstelle in Jerusalem erweitern wollte.

1935 übernahm sie die Geschäftsleitung des zweiten Geschäftes in Jerusalem und bekam ein Gehalt von 6 GBP im Monat zuzüglich 5 % des Umsatzes. Jerusalem war Teil des Britischen Mandats für Palästina und so wurde beschlossen, dass sie als Touristin einreisen würde, um die Genehmigung einer Arbeitserlaubnis abzuwarten. Aufgeregt verabschiedete sie sich von ihren Eltern in Fulda – sie hielten sie immer noch für töricht, diesen Weg gewählt zu haben – und stieg in Brindisi, Italien auf ein Schiff Richtung Palästina.

An Bord des Schiffes begegnete Rachel einem anderen deutschen Passagier, Ernst Bensinger, der nach einem Kurzurlaub im Ausland auf dem Rückweg nach Palästina war. Ernst war im Vorjahr bereits nach Palästina übergesiedelt und arbeitete zusammen mit seinem Vater in dessen Textilbetrieb in Tel-Aviv. Nach kurzem Anbandeln heirateten Rachel und Ernst 1936 in einer kleinen Zeremonie im Haus seiner Eltern in Tel-Aviv.

Zwei Jahre später kam ihr erster Sohn Gad zur Welt. Gad ist ein biblischer Name, einer der zwölf Stämme Jakobs. 1949 kam ihr zweiter Sohn, Eytan, in Tel-Aviv zur Welt. Nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 wurde Eytan ein beliebter Name in Israel. Der Name steht für Stärke.

Rachel sprach oft davon, wie froh und begeistert sie war, als Israel seine Unabhängigkeit deklarierte. Sie tanzte mit auf den Straßen Tel-Avivs und nahm an Paraden und andere Feierlichkeiten teil. Endlich wurde ihr Lebenstraum, einen Staat für das jüdische Volk zu verwirklichen, wahr. Auch hatte sie ihren ganzen engen Familienkreis um sich. Ihre Eltern Willy und Tekla sind im November 1938 nach Palästina übergesiedelt und ließen sich in einer kleinen Wohnung in Tel-Aviv nieder.

Die Familie genoss ein glückliches Leben in Palästina / Israel. In den frühen 1940ern bauten sich Rachel und Ernst ein schönes Zuhause in Holon, einem Vorort von Tel-Aviv. Der Textilbetrieb des Schwiegervaters von Ernst florierte und er und Rachel fuhren oft mit dem Auto nach Beirut, Damaskus und Amman, um die Ware an arabische Kunden zu verkaufen. Auch fuhren sie oft nach Europa und machten bei manchen Fahrten auch halt in Baden-Baden.

Dennoch beschloss die junge Familie 1955 Israel wegen einer neuen Arbeitsgelegenheit für Ernst zu verlassen und in die USA zu ziehen. Als überzeugte Zionistin war Rachel über diese Entscheidung nicht gerade glücklich. Bis zu ihrem Tode liebte sie Israel und bereute es immer emotional, nach Amerika gegangen zu sein.

Zuerst wohnte die Familie im New Yorker Stadtteil Washington Heights und zog 1958 nach Chicago. 1968 starb Ernst, was Rachel vor neue Herausforderungen stellte. Aber sie hat sich „an den Stiefelriemen“ wieder aufgerichtet, absolvierte einige Ergotherapie-Lehrgänge und arbeitete dann in verschiedenen Pflegeheimen im Großraum Chicago.

Die nächsten 25 Jahre erfreute sie sich ihrer Interaktionen mit den älteren Menschen, mit denen sie dank ihrer kreativen Fertigkeiten farbenfrohe Kunst- und Bastelprojekte unternehmen konnte. Sie genoss ein aktives Sozialleben in Chicago. Sie hatte Beziehungen und lebte eine Zeit lang mit einem Partner zusammen. Sie ging gerne in die Symphonie und die Oper und bereiste die Welt mit ihren Freunden. Sie pflegte den wöchentlichen Kontakt zu ihren Eltern in Israel und besuchte sie dort jährlich.

Rachel war immer sehr stolz auf ihre Errungenschaften als junge Frau, alleine nach Israel zu ziehen, mit 23 Jahren Dr. Scholl Geschäft in Jerusalem zu leiten sowie ihr Engagement bei der Errichtung des Staates Israel. Ihre nachhaltige Philosophie besagte, dass man alles im Leben erreichen kann, wenn man es wirklich will und man hart dafür arbeitet. Das hat sie getan.

Obwohl Rachel sich nach ihrem Leben in Israel sehnte erkannte sie, dass Amerika ihrer Familie besondere Möglichkeiten für Glück und Erfolg bot. Sie war besonders stolz auf ihre Söhne Gad, den Professor, und Eytan, den Anwalt, sowie auf ihre wunderschönen Enkel und Urenkel. Mit 90 zog sie in ein selbstbestimmtes Alterswohnprojekt, wo sie bis 2014 glücklich lebte.

Sie verstarb 2014 im Alter von 102 Jahren.


Vielen Dank an die Familie Ethan Bensinger für die Bereitstellung der Bilder und Dokumente.

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