Geschichtlicher Überblick

Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde


(Quelle: http://www.alemannia-judaica.de)

In Fulda bestand eine jüdische Gemeinde bereits im Mittelalter. Anlässlich eines angeblichen Ritualmordes 1235 findet sich eine erste Erwähnung einer jüdischen Gemeinde. Vermutlich gab es jedoch bereits seit der Gewährung des Marktrechts (1019) Juden in der Stadt. Der katholische Gelehrte Rabanus Maurus erwähnt bereits im 9. Jahrhundert “jüdische Zeitgenossen”. 
     
Bei der Judenverfolgung am 28. Dezember 1235 wurden etwa 34 Personen der Gemeinde wegen eines angeblichen Ritualmordes von drei oder gar fünf Kindern erschlagen. Im Juli 1236 wurden die Fuldaer Juden jedoch auf Grund des Urteils einer Untersuchungskommission vom Kaiser, den Fürsten und der Geistlichkeit von der gegen sie erhobenen Beschuldigung freigesprochen. Bis Ende des 13. Jahrhunderts fehlen Nachrichten über Juden in der Stadt. 1301 werden jedoch Juden in Fulda genannt, die gemeinsam mit den in Hammelburg und Hünfeld lebenden – zum Herrschaftsbereich des Kloster Fulda gehörenden – Juden von König Albrecht dem Kloster verpfändet wurden. Am 22. März 1349 kam es zur Judenverfolgung während der Pestzeit. Bürger der Stadt und die Amtleute des Abtes fielen über die Juden her und ermordeten sie (nach Schätzungen ist von etwa 180 Toten auszugehen). Einige konnten wohl entkommen wie Abraham von Fulda, der 1357 zu den Neugründern der Gemeinde Erfurt gehörte, und Joseph, der 1359 in Nürnberg aufgenommen wurde. 

1367 werden wieder zwei Juden in der Stadt genannt, die in der in diesem Jahr erstmals genannten “Judengasse” wohnten. Diese Judengasse war verhältnismäßig breit und lag gegen den Stadtrand hin, aber keineswegs unmittelbar an der Mauer. Hier stand vermutlich die Synagoge der Gemeinde. An dem zur Innenstadt gerichtete Teil der Gasse war ein eigener Brunnen, der “Judenborn“. Von den beiden 1367 genannten Juden war einer aus Mellrichstadt zugezogen. Im 15./16. Jahrhundert lebten nur relativ wenige jüdische Familien in der Stadt, doch kam es spätestens um 1500 wieder zur Bildung einer Gemeinde. 1492 nahm Fürstabt Johann II. von Henneberg den Arzt Jakob in der Stadt auf. Er wurde verpflichtet, die Stiftsuntertanen gegen eine angemessene Bezahlung zu behandeln. 1507 wurden alle Juden der Stadt für mehrere Wochen aus nicht geklärten Gründen mehrere Wochen im Gefängnis festgehalten. 1514 wird der jüdische Arzt Lipman genannt, der für das Hofgesinde zuständig war und zugleich einen Arznei- und sonstigen Handel betrieb. 1516 widersetzte sich Fürstabt Hartmann II. der Forderung nach der Vertreibung der Juden aus der Stadt.    

Zu einer Blüte jüdischen Gemeindelebens kam es im 16./17. Jahrhundert, obwohl in dieser Zeit der Gegensatz zwischen der Bürgerschaft und den Juden der Stadt immer stärker wurde. Die Zahl der jüdischen “Hausgenossen” (offenbar Familien) stieg von 18 im Jahr 1567 auf 28 (1586) auf 50 (1601), 80 (1623). 1591 wurde die jüdische Bevölkerung von durchziehenden Söldnern vollständig ausgeplündert. Die Fuldaer hatten sich entgegen der Aufforderung der Regierung geweigert, die Juden der Stadt zu schützen. 1603 wurde Fulda Sitz eines jüdischen Gerichtshofes. In der Stadt gab es eine Jeschiwa (Talmudschule), die unter Rabbiner Maharam Schiff (1605 Frankfurt – 1644 Prag; von 1622 bis 1640 Rabbiner in Fulda) Weltruhm erlangte. Vor Maharam Schiff waren u.a. als Rabbiner in der Stadt tätig: 1565 bis 1588 David ben Isak aus Litauen, bis 1598 Ruben ben Salomon, 1598 bis 1604 Natphatli ben David Bacharach (“Herz aus Fulda”), 1604 bis 1609 Elia ben Mosche Loans (ein Enkel des Joselmann von Rosheim), 1615 bis 1920 Aron Samuel ben Mosche Schalom aus Krzeminiec.                    
   
1671 wurden alle Juden aus Fulda (und dem Fürstbistum) ausgewiesen bis auf fünf Familien, die weiterhin in der Judengasse wohnen konnten. Ihre Namen waren Hirsch auf der Trepp (nach den Stufen des “Judenbergs” so genannt, daraus entstand später der Familienname Trepp u.ä.), Löser Seligmann auf der Tanzhütte (dem Gemüsemarkt), Lemble Geys sowie die Witwe Koppelen und ihr Sohn.    

Im 18. Jahrhundert nahm die Zahl der jüdischen Familien in der Stadt wieder langsam zu, doch war das jüdische Leben in der Stadt auf Grund zahlreicher Verordnungen und Restriktionen nur eingeschränkt möglich. Erst nach der Französischen Revolution (1789) setzte ein Prozess ein, der schließlich nach den Gesetzen von 1833 zur rechtlichen Gleichstellung der Juden mit den Christen führte.   

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Zahl der jüdischen Einwohner wie folgt: 1802 237 jüdische Einwohner (2,8 % von insgesamt 8.559 Einwohnern), 1811 47 jüdische Familien (35 Familienväter mit Familie, 9 Witwen mit Kindern und 3 Ledige ohne Angehörige), 1827 324 jüdische Einwohner (3,5 % von 9.266), 1854 291 (3,3 % von 9.547), 1861 281 (3,0 % von 0.339), 1871 295 (3,1 % von 9.423), 1885 440 (3,6 % von 12.284), 1895 566 (3,9 % von 14.528), 1905 861 (4,2 % von 20.419), 1910 957 (4,3 % von 22.487).   

An Einrichtungen bestanden insbesondere eine Synagoge (s. u.), eine jüdische Schule, ein rituelles Bad und ein Friedhof. Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde gab es neben dem Rabbiner (Provinzialrabbiner s. u., zeitweise zwei Rabbiner beziehungsweise zusätzlich ein Rabbinatsassessor [Dajan]) jüdische Lehrer, die auch den Vorbeterdienst in der Synagoge übernahmen, Schochetim (Schächter) und weitere Bedienstete (Synagogendiener). Die jüdische Schule befand sich seit 1898 im Gebäude Von-Schildeck-Straße 10/Ecke Rangstraße. Damals (und bis 1910) war Lehrer an der Schule Jakob Spiro.      

Fulda war im 19./20. Jahrhundert Sitz eines Provinzialrabbinates. Der Rabbinatsbezirk umfasste um 1925 die Kreise Fulda, Hünfeld, Hersfeld und Schmalkalden. Auch der Kreis Gersfeld gehörte zum Rabbinat Fulda. Als Provinzialrabbiner waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tätig:   

 Dr. Jakob Rosenberg (Rabbiner in Fulda von 1843 bis 1852): geb. 1806 als Sohn des Kaufmannes David Rosenberg in Düsseldorf; nach seiner Zeit in Fulda, die ihn in mancherlei Konflikte mit der Gemeinde brachte (siehe Bericht auf Textseite), wählte ihn am 7. September 1852 die Gemeinde im niederländischen Groningen zum Rabbiner, wo er bis Ende 1860 beziehungsweise bis zum Dezember 1861 verblieb; 1864 verzog er nach Frankfurt, wo er im April 1868 starb.  
 Dr. Samuel Enoch (Rabbiner in Fulda von November 1855 bis Dezember 1876), geb. 8. Oktober 1814 in Hamburg, Studium in Würzburg (Schüler von Abraham Bing) und Erlangen; bereits 1832 Rabbinatsassistent in Kassel, 1839 Schuldirektor der Bürgerschule (beziehungsweise Freischule; private orthodoxe Lehranstalt) in Altona; seit 1845 mit Jacob Ettlinger Herausgeber der Zeitschrift “Der treue Zionswächer”, später “Redakteur der Jüdischen Presse”; 1854 Berufung nach Fulda – die Stelle trat er im November 1855 an (siehe Berichte auf Textseite); gestorben 31. Dezember 1876 in Fulda. 
 Dr. Michael Cahn (Rabbiner in Fulda von 1877 bis 1918): geb. 1847 in Rüdesheim am Rhein, gest. 1920 in Fulda; Studium in Mainz und Berlin, Promotion 1874 in Straßburg, Rabbinerdiplom 1876 in Berlin, Rabbiner in Samter (Provinz Posen), seit 1877 in Fulda; war im Religiösen streng orthodox, politisch war er patriotisch, national und kaisertreu eingestellt.       
 Dr. Leo Cahn (Rabbiner in Fulda von 1919 bis 1939), geb. 1889 in Fulda; war zunächst Rabbinatsassessor, ab 1919 als Nachfolger seines Vaters als Provinzialrabbiner in Fulda; emigrierte mit seiner Familie nach der Pogromnacht 1938 nach England, von dort im folgenden Jahr nach Palästina/Erez Israel; gest. 1959 in Bnei Brak/Israel).  

Neben den Provinzialrabbinern gab es mehrere Rabbinatsassessoren, darunter:  

 Baruch Kunstadt (von 1909 bis 1939 in Fulda), der als Leiter der Talmudlehranstalt (Schass Chewrah) in Fulda tätig war. Nach seiner Auswanderung gründete er in Palästina die Jeschiwa “Kol-Torah” (Stimme der Torah). Er starb 1967 in Jerusalem.  

Im Ersten Weltkrieg fielen aus der jüdischen Gemeinde Unteroffizier Julius Birnbaum (geb. 11.5.1893 in Fulda, gef. 8.8.1918), Eugen Eschwege (geb. 7.7.1885, gef. 29.7.1916), Josef Eschwege (geb. 19.4.1877 in Fulda, gef. 14.4.1916), Julius Flörsheim (geb. 25.1.1881 in Flieden, gef. 18.4.1917), Isfried Freund (geb. 28.5.1897 in Fulda, gef. 25.7.1917), David Goldschmidt (geb. 5.7.1897 in Fulda, gef. 7.10.1916), Johann Julius Greif (geb. 3.11.1878 in Fulda, gef. 7.10.1916), Alfred Herrmann (geb. 25.4.1896 in Richlawo, gef. 21.4.1916), Moritz Kamm (geb. 10.6.1886 in Hettenhausen, gef. 5.10.1917), Siegfried Katzmann (geb. 6.4.1894 in Flieden, gef. 27.7.1916), Adolf Nußbaum (geb. 16.4.1898 in Fulda, gef. 17.10.1917), Gefreiter Artur Nußbaum (geb. 28.12.1889 in Fulda, gef. 6.11.1914), Siegmund Simon Plaut (geb. 4.3.1877 in Hünfeld, gef. 29.10.1918), Siegfried Seligstein (geb. 18.9.1892 in Fulda, gef. 18.11.1918), Friedrich Moritz Sichel (geb. 5.2.1888 in Fulda, gef. 16.3.1915), Simon Strauß (geb. 24.4.1878 in Obermoss, gef. 20.9.1916).  

Um 1925, als zur Gemeinde 1.137 Personen gehörten (4,3 % von insgesamt 26.140 Einwohnern), waren die Gemeindevorsteher Emanuel Stern, Max Kugelmann und Mendel Wertheim. Neben Provinzialrabbiner Dr. Leo Cahn wird als Rabbinats-Assessor B. Kunstadt genannt. Als Lehrer war Iwan Möller angestellt, als Lehrer und Schriftführer der Gemeinde (seit 1919) Abraham Sonn (geb. 1873 in Mainstockheim, zuvor Lehrer in Theilheim und Rhina), als Schochet C. Lassmann, als Synagogendiener M. Fuchter. An der Israelitischen Volksschule gab es damals 69 Kinder, unterrichtet durch die genannten Lehrer Möller und Sonn. An den höheren Schulen der Stadt erteilte Rabbiner Dr. Cahn den Religionsunterricht.  

1932 waren die Gemeindevorsteher M. Kugelmann (1. Vors.), M. Wertheim (2. Vors.) und Dr. L. Herz (3. Vors.). Es gab in der Gemeindeleitung einen Finanzausschuss (Vorsitzender Dr. L. Herz) und einen Kaschruth-Ausschuss (Vorsitzender S. Ansbacher). Weiterhin waren die Lehrer Iwan Möller und Abraham Sonn in der Gemeinde und der Israelitischen Volksschule tätig. In drei Klassen wurden 92 Kinder unterrichtet. Weitere 60 Kinder erhielten Religionsunterricht. 

An jüdischen Vereinen gab es u. a. die Armenkasse für hiesige Arme der Israelitischen Gemeinde (Zweck und Arbeitsgebiete: Unterstützung hilfsbedürftiger Gemeindemitglieder), die Chewra Bikkur-Cholim, Verein zur Unterstützung armer jüdischer Kranker (gegründet 1927, 1932 Vorsitzender Moritz Oppenheimer mit 90 Mitgliedern; Zweck und Arbeitsgebiet: Krankenunterstützung), die Chevra Kadischa (1932 unter Vorsitz von Isak Wertheim, Zweck und Arbeitsgebiete: Unterstützung, Bestattungswesen), den Israelitischen Frauenverein e.V. (gegründet 1900, 1932 unter Vorsitz von Ida Nußbaum mit 260 Mitgliedern), der Verein “Rituelle Küche im Landkrankenhaus” (gegründet 1927, 1932 unter Vorsitz von Rabbiner Dr. Cahn; Zweck und Arbeitsgebiet: Versorgung jüdischer Kranker im Landkrankenhaus mit ritueller Kost). An weiteren Vereinen gab es die Maharam Schiff-Loge U.O.B.B. (1932 Vorsitzender Isak Wertheim), den Ostjüdischen Verein, die Schass-Chevra (1932 Vorsitzender S. Ansbacher). An besonderen Einrichtungen ist die Jüdische Abteilung mit 15 Plätzen im Lioba-Siechenhaus zu nennen. Mit einem “Gemeindeblatt” hatte die jüdische Gemeinde ein eigenes Publikationsorgan für ihre Mitglieder.     

1933 lebten 1.058 jüdische Personen in der Stadt (3,89 % von insgesamt 27.753 Einwohnern). In den folgenden Jahren ist ein Teil der jüdischen Gemeindeglieder auf Grund der Folgen des wirtschaftlichen Boykotts, der zunehmenden Entrechtung und der Repressalien weggezogen beziehungsweise ausgewandert. Der Boykott vom 1. April 1933 hatte über 100 Geschäfte und Unternehmen betroffen, deren Inhaber in den folgenden Jahren zur Geschäftsaufgabe gezwungen waren. Am 11. Juli 1935 wurde ein brutaler Überfall über den bis dahin vor allem von jüdischen Viehhändlern beschickten Viehmarkt in Fulda verübt. Der Überfall wurde von dem damaligen Kreisbauernführer Fang und weiteren Bauern geplant. Mit Knüppeln bewaffnete Schlägertrupps – vor allem aus Dipperz, Dietershausen und Friesenhausen – überfielen den Viehmarkt, schlugen auf die jüdischen Händler und auf das Vieh ein, jagten die Tiere durcheinander und lösten die Stricke.  Am 1. April 1937 wurden noch 852 jüdische Einwohner gezählt. Beim Novemberpogrom 1938 kam es bereits am 9. November zu Übergriffen auf jüdische Geschäfte und Wohnungen. Die Jüdische Volksschule wurde von fanatisierten Jugendlichen überfallen, die Einrichtung zertrümmert; alter und neuer jüdischer Friedhof wurden schwer geschändet. Am Morgen des 10. November wurde die Synagoge unter Anleitung des SS-Standortkommandanten Otto Grüner und seinen Helfershelfern die Synagoge niedergebrannt. Die jüdischen Männer wurden verhaftet und in das Katholische Gesellenhaus in der Florengasse gesperrt; die meisten wurden anschließend in das KZ Buchenwald verbracht. Die jüdischen Wohnungen wurden durchsucht. Während aus Fulda bis Ende 1938 ein Großteil der jüdischen Einwohner von 1933 verzogen beziehungsweise ausgewandert sind, zogen andere Familien vom Land in die Stadt Fulda nach. Ende 1940 mussten die jüdischen Familien in sogenannten “Judenhäusern” zusammenziehen (u. a. Mittelstraße 25 und 28, Am Stockhaus 2 und 10; Karlstraße 32 und 37, Petersberger Straße 25, Rhönstraße 6, im Jüdischen Altersheim Schildeckstraße 10). Vor Beginn der Deportationen waren am 30. September 1941 248 jüdische Personen in der Stadt. Ein Jahr wurde keine jüdische Person mehr gezählt – Fulda war in der NS-Sprache durch die Deportationen “judenfrei” geworden.
  
Zu den in Fulda geborenen und/oder längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen Personen, die in der NS-Zeit umgekommen sind, siehe die – mehrere hundert Namen umfassenden – Angaben im “Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945“). Nach Unterlagen im Stadtarchiv gelang von den 1.545 jüdischen Personen, die in Fulda gemeldet waren – unter ihnen auch diejenigen, die aus umliegenden Dörfern nach Fulda gezogen waren oder nur kurze Zeit bei Verwandten wohnten – 940 die Flucht ins Ausland. Etwa 600 Kinder, Frauen und Männer wurden in Konzentrationslager deportiert und ermordet. 

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